Der Atem ist eine unserer wichtigsten Ressourcen: Er schenkt uns Energie und Entspannung, hilft uns beim Ausdruck und Erfahren von Emotionen und ist ein wichtiger Helfer auf dem spirituellen Weg. Es ist eine Besonderheit des Yoga, dass der Verfeinerung des Atems so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Hier soll es aber nicht um die Kunst des Pranayama als eigenem Yoga-Element gehen, sondern um die Integration des Atems in die Asana-Praxis. Das ist ein für jedermann zugänglicher Aspekt des Yoga, der gewinnbringend und – wie ich glaube – in Zeiten wie diesen – besonders wichtig.
Im Hatha Yoga wird dem Körper große Wertschätzung beigemessen, er wird als Tempel bezeichnet, weil er als Vehikel auf dem Pfad unabdingbar ist. Der Atem ist aber nicht weniger wichtig als der Körper, die Praxis des Hatha Yoga besteht aus diesen beiden Polen. Krishnahmacharya hat gesagt, dass eine Asana-Praxis ohne Atemachtsamkeit nicht möglich ist. In diesem Punkt unterscheidet sich die Tradition des Yoga nach Krishnamacharya und Desikachar von vielen anderen Stilen.
Die Beschäftigung mit dem Atem eröffnet ein ungeahntes Feld an Möglichkeiten, vor allem in dynamischen Übungsvarianten. Bei der Verbindung von Atem und Bewegung wird sehr genau unterschieden, welche Bewegung mit welcher Atemphase kombiniert wird und welche Wirkung dabei erreicht werden kann. Wenn man neben der Aus- und der Einatmung dabei auch noch die Atempausen mit einbezieht, wird dieses Thema ziemlich schnell sehr komplex. Man bekommt ein weites Übungsfeld, um die Konzentration zu schulen, aber auch, um den Atem zu verfeinern und zu verlängern.
Neben dieser eher technischen Seite ist mir aber vor allem auch die emotionale Qualität des Atems wichtig. Zu dieser emotionalen Seite kommt man relativ schnell, wenn man sich zB mit der Verbindung von Ausatmung und Loslassen beschäftigt und mit der Wahrnehmung der Stille zwischen Aus- und Einatmung. Mit etwas Übung kann der Yoga-Schüler auch in der Bewegung erfahren, dass jeder einzelne Atemzug die Möglichkeit zu Entspannung und Regeneration mit sich bringt. Und umgekehrt kann auch die Erfahrung der Fülle am Ende eines Atems ein Glücksmoment sein, den wir manchmal gern noch etwas verlängern möchten, manchmal ist uns wiederum gar nicht danach.
So ist das Atemgeschehen immer sehr individuell. Die Beschäftigung mit dem Atem im Asana ist ein ständiges Auswählen zwischen Erfahrungsmöglichkeiten, die jetzt im Moment gerade willkommen sind. Soll der Atem ein Vehikel für die Entwicklung der Spiritualität sein, dann ist diese Wahlfreiheit sehr wichtig. Denn für den Atem gilt noch viel mehr als für den Körper: er verträgt keinen Zwang. Der wichtigste Grund, warum ich dieses Thema in meinen Kursen jetzt in den Vordergrund rücke, ist nicht der, dass ich den Atem meiner Kursteilnehmer verlängern möchte (das mag ein Nebeneffekt sein), sondern dass sie den Atem als Ressource für die innere Kraft schätzen lernen und beginnen, diese in der eigenen Praxis zu nutzen. Wer den Atem im Asana als Kraftquelle erfahren hat, wird ihn auch im Alltag in ganz anderer Weise als zuvor zu schätzen wissen, nämlich als Freund, der einem auch in der schwersten Zeit immer zur Seite steht.